[Aktive Innenstadt] [Diskussionen Koeln] Fehler beim FAZ-Artikel zu Hartz IV

Alexander Recht a.recht at gmx.de
Fri Apr 6 12:36:54 CEST 2018


Lieber Manfred,

 

vielen Dank für deinen guten Anmerkungen.

 

Mit deinem Hinweis aufs Home Office hast du recht, aber das habe ich aus Komplexitätsreduktion wegen nicht auch noch ausgeführt. Die unterstellten Mieten in Großstädten sind bereits realitätsfremd genug, was ich ja an mehreren Stellen kritisiert habe. Nun hum Aufstockbetrag; Dass bei Überschreiten des anrechenbaren Einkommens kein Aufstockbetrag gezahlt wird und daher sich eine Antragstellung nicht lohnt, hatte ich doch geschrieben … Dennoch habe ich jetzt nochmal genauer betont, dass sich eine Antragstellung wegen Ablehnung nicht lohnt. Und ja: copy-paste … Ich habe nun die Rechnungen auf 1.500 € Letztgrenze bei Eltern angepasst, so dass der Aufstockbetrag auf 330 € steigt. Ich habe den Artikel wegen deiner Anmerkungen leicht angepasst:

 

https://www.dropbox.com/s/z25bhafhkf7fmx3/FAZ_unzureichende_Rechnung.pdf?dl=0

 

Ich stimme dir nur zur Hälfte zu beim Lohnabstandsgebot. Du hast recht, wenn du sagst, dass die Einhaltung des Lohnabstandsgebots wegen des RBEG nicht mehr Aufgabe der Sozialpolitik sein darf und das sozialkulturelle Existenzminimum erhöht werden muss, was ich ja im Artikel auch geschrieben habe. Aber das Problem ist doch, dass die Agenda 2010 einen massiven Niedriglohnsektor geschaffen hat, so dass nicht hohe Sozialleistungen (die übrigens in D nie besonders hoch waren, das ist eine Mär) sich den Nettolöhnen von unten nähern, sondern dass sich die Nettolöhne von oben den Sozialleistungen nähern.

 

Dieser Trend muss mE umgekehrt werden. Auch einfachere Tätigkeiten erfordern höhere Bruttolöhne als heute, deren korrespondiere verfügbare Nettoeinkommen deutlich über den Regelsätzen (plus KdU) liegen. Nicht so sehr geht es dabei um Anreizargumente – die meisten Erwerbslosen wünschen sich ohnehin eine Beteiligung am Erwerbsleben zu ordentlichen Bedingungen. Es geht vielmehr darum, dass die produzierten und realisierten Werte in viel stärkerem Umfang durch die Lohnabhängigen angeeignet und auch ausgegeben werden müssen, anstelle auf den Konten der Bezieher von Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen zu landen. Das ist ein makroökonomisches Argument. Hinzu kommt, dass das Lebenshaltungsniveau bei Erwerbstätigkeit wegen des historisch-moralischen Elements der Lohnbestimmung über dem Sicherungsniveau eines (gewiss deutlich höher als heute anzusetzenden) sozialkulturellen Existenzminimums liegen sollte. Auch das habe ich im Artikel in einem Satz neu erwähnt.

 

PS: Dass es zusätzlich längere Bezugsdauern beim ALG I und eine Widereinführung einer Arbeitslosenhilfe geben sollte, wären gesondert zu diskutierende Themen.

 

LG,

Alex

 

From: diskussionen-koeln [mailto:diskussionen-koeln-bounces at die-linke.org] On Behalf Of Müller Manfred
Sent: Friday, April 6, 2018 10:46 AM
To: diskussionsliste <diskussionen-koeln at die-linke.org>
Subject: Re: [Diskussionen Koeln] Fehler beim FAZ-Artikel zu Hartz IV

 

Hallo Alex,

 

Zunächst einmal Danke für Deine ausführliche Ausarbeitung. 

 

Gestatte mir dennoch einige grundsätzliche Anmerkungen und Hinweise:'

1. 

Natürlich bin auch ich für hohe Bruttolöhne.Aber wir sollten uns vom „Lohnabstandsgebot“ nicht nur endgültig verabschieden, sondern jeglichem Versuch es wiederzubeleben widerstehen.

Nachdem das Bundessozialgericht die Bundesregierung dazu verurteilt hatte, die Ermittlung der Regelsätze im SGB II durchschaubar zu gestalten, erfolgte 2011 die Einführung des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG).Mit allerlei statistischen Tricks und Finten wurden die „Bedarfe“ so hingebogen, dass die Regelsätze um 5 € hätten gesenkt werden müssen. Darauf wurde großzügig verzichtet. Aber nach diesem bürokratischen Kraftakt drohte neues Ungemach.Wie sollte man nun das „Lohnabstandsgebot“ (§ 28 Abs.4 SGB XII) bestimmen. Die Lösung war einfach. Seit Einführung des RBEG ist das „Lohnabstandsgebot“ Geschichte.

Dass nun die FAZ und andere Kreise versuchen,diesen toten Hund wieder auszugraben, um den Kampf von Elend gegen Not weiter zu befeuern, sollten wir als das übliche Ablenkungsmanöver über ihr eigenes Tun betrachten.Es scheint an deren besonderen Sozialisation zu liegen, dass die tatsächlich“sozial schwachen“ Schichten dieser Gesellschaft Erwerbslose prinzipiell als arbeitsscheu betrachten, die durch besondere Anreize zum „Schaffen“ gebracht werden müssen.Die Wirklichkeit sieht anders aus,aber zu dieser hatten und haben diesen Herrschaften wohl kaum einen Zugang.

 

Als LINKE sollten wir den Blick in die andere Richtung wenden, nämlich auf die exorbitanten Managergehälter und Boni.Hier muss ein „Lohnabstandsgebot“ erkämpft werden.In Köln hatten wir einmal den Beschluss diese auf das 30 fache eines Durchschnittslohn zu begrenzen.In diese Richtung gilt es gerade jetzt aufzuklären.

 

2.

Der FAZ Artikel ist ein peinlicher Griff ins Klo.Er zeigt einmal mehr,dass in diesen „postfaktischen Zeiten“ mangelnde Sachkunde zum Karrieremerkmal zu werden scheint. Du weist in Deiner Ausarbeitung ja richtigerweise darauf hin,dass in den gewählten Beispielen nur jeweils eine Person erwerbstätig ist.(Selbstverständlich der Mann ;-)) und die Mietpreisbeispiele mit denen von Köln nix zu tun haben. Unrealistisch ist aber auch die Tatsache, dass alle Erwerbstätigen anscheinend im „home office“arbeiten oder fußläufig zu ihrem Arbeitsplatz wohnen. In dem Moment, wo Kosten für öffentliche Verkehrsmittel oder ein Kraftfahrzeug ins Spiel kommen wird der Grundfreibetrag von 100 € überschritten. Die höheren Kosten können dann als „Absetzbetrag“ geltend gemacht werden.Das gilt m.E. Für mindestens 90 % der Betroffenen.

 

Was in der ganzen Debatte überhaupt nicht berücksichtigt wird, ist die die Tatsache, dass die Erwerbstätigen in die Rentenkasse einzahlen, die Erwerbslosen nicht. Selbst bei den dargestellten geringen Lohnhöhen können Erwerbstätige pro Jahr Erwerbstätigkeit mit 25 -35 € Rente pro Monat rechnen, währenddessen Erwerbslose keine Rentenansprüche aufbauen.Bei Langzeit-

erwerbslosen wird hier die Altersarmut vorprogrammiert.

 

3.

Überprüfe bitte die Freibeträge bei den Bedarfsgemeinschaften mit Kindern. § 11 b SGB II letzter Satz (!) erhöht in diesem Fall die Kappungsgrenze zur Berechnung der Freibeträge von 1200 auf 1500 €. Der Freibetrag beträgt hier 330 € und nicht 300 €.

Unter 2.3.6. führst Du aus:

„Statt ohne Aufstockung mit Wohngeld 2.964,81 € zu erhalten, erhält das Paar mit 0,00 € Aufstockung ohne Wohngeld 2.953,81 €. Die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen mit und ohne Aufstockung ist 2.953,81 € – 2.964,81 = -11,00 €. Dies entspricht dem ums Wohngeld reduzierten Aufstockbetrag: 0,00 € – 11,00 € = -11,00 €. Es sollte hier kein aufstockendes ALG II beantragt werden, da dies eine schlechtere Position erbringt als der 

Bezug von Wohngeld.“ 

 

Dies entspricht nicht der Praxis, weil in dem genannten Fallbeispiel ein Antrag auf „Aufstockung“ abgelehnt werden würde, weil das verfügbare Einkommen, die Regelbedarfe übersteigt (§ 9 SGB II).Üblicherweise versieht das Jobcenter Köln einen solchen Ablehnungsbescheid mit dem Hinweis auf die Möglichkeit Wohngeld zu beantragen.

 

Mit solidarischen Grüßen

 

Manfred Müller

 

Sozialberater bei der LINKEN.Köln

 

 

Am 4. April 2018 um 12:57 schrieb Alexander Recht <a.recht at gmx.de <mailto:a.recht at gmx.de> >:

Liebe Genossinnen und Genossen,

 

in der FAZ wurde am 19.03.2018 ein Artikel publiziert, dessen Überschrift lautete: "Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit". Er findet sich hier:

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/hartz-iv-lohnt-sich-oft-mehr-als-arbeit-15500363.html

 

Um den ganzen FAZ-Artikel lesen zu können, verweise ich auf den Anhang.

 

Jedenfalls ist dieser FAZ-Artikel fehlerhaft und seine Grundthese falsch. Daher habe ich mich in einem eigenen umfassenden Artikel mit ausführlicher Erklärung und Berechnung darum bemüht, die FAZ-Fehler zu korrigieren und darauf hinzuweisen, dass das Lohnabstandsgebot durch höhere Löhne eingehalten werden sollte.

 

Man findet meinen Artikel im Anhang und jeweils aktualisiert hier:

https://www.dropbox.com/s/z25bhafhkf7fmx3/FAZ_unzureichende_Rechnung.pdf?dl=0

 

LG,

Alex


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